Heinrich Weber: Der Wettringer der Zukunft!

[Entstehungsdatum unbekannt; Sammlung privat[*]]

Der Endzweck aller turnsportlichen Übung ist die Erziehung zum geistig körperlich hochentwickelten Zukunftsmenschen. Dies wird auch von den Anhängern des Ringkampfes erstrebt.

Typoskript aus dem Nachlass von Heinrich Weber; Sammlung privat

Eine Übung, welche zugleich möglichst viele männliche Eigenschaften anregt und weiterentwickelt, ist natürlich wertvoller als die, welche in immer wiederkehrender Gleichmäßigkeit wiederholt wird. Deshalb unterscheidet sich das Ringen von anderen Sportarten, und der große Sportpädagoge Guths-Muths nannte es deshalb einen Mikrokosmos aller Leibesübungen, was damit bewiesen ist, dass jeder einzelne Ringergriff als eine körperliche Übung für sich, neben den vorbereitenden [Übungen] und Stilübungen, erlernt werden müsste. Das war bisher jedoch nicht der Fall. Man beschränkt sich bei der Vorbildung des angehenden Ringers auf alle Vorübungen, welche denselben mutig, stark, geschmeidig und energisch machen. Der Zweck des Ringens besteht darin, einen Gegner durch die Anwendung verschiedener Griffe in eine hilflose Lage mit beiden Schultern an den Boden zu fesseln.

Bei den Amateuren genügt hierzu der Bruchteil einer Sekunde, eine sogenannte Momentniederlage; während bei den Profis eine stärkere Dokumentierung des Sieges durch eine gut sichtbare Schulterniederlage verlangt wird. Rein technisch haben diese verschiedenen Zeitbemessungen ihre Licht- und Schattenseiten, die genauer zu erläutern den Rahmen dieser Zeilen überschreitet.

Um einen Gegner auf die Schultern zu zwingen, stehen dem Angreifer über 200 verschiedene Angriffe zur Verfügung, welche durch Hebel, Züge, Schwünge, und dergleichen mehr, zum Erfolg führen sollen. Die Beanspruchung des Ringers wird jedoch erhöht, weil jede ringerische Funktion durch die gleichen Aktionen des Gegners vereitelt wird.

Typoskript aus dem Nachlass von Heinrich Weber; Sammlung privat

Diese Vielseitigkeit wird noch dadurch erhöht, dass viele Angriffe auf verschiedene Arten angewendet werden können; so kann der Untergriff durch etwa 10 verschiedene Arten gefasst und durchgeführt werden. Beim Hüftzug oder Hüftschwung gibt es sogar einige 15 verschiedene Anwendungsformen, allein nach einer Seite hin.

Was sich aus einer solchen vielseitigen, ringsportlichen Materie ergibt, lässt sich am bequemsten mit den Variationen eines Schach- oder Skatspieles vergleichen. Auch hierbei werden die Akteure nie auslernen. Dabei sollen dem fertigen Wettkämpfer alle Kombinationen so geläufig sein, dass er sie im gegebenen Moment sehr oft im Bruchteil einer Sekunde, auf eine Reflexwirkung hin, auszuführen vermag; soweit dies der Gegner durch größere Schnelligkeit, Geschmeidigkeit, Kraft und Präzision nicht vereitelt.

Auch hier mögen Vergleiche dienen. So wie ein Klavierspieler in einer Phantasie künstlerisch und gefühlsmäßig wohlklingende Melodien aus erlernten Noten formt, gleich wie ein Leser ganze Kolonnen erlernter Schriftzeichen überfliegt, ähnlich soll sich der Wettringer im Labyrinth ringerischer Kombinationen zurechtfinden, erfassen und so schnell verwenden, dass er damit dem Gegner zuvor kommt. Um dies wieder allgemein verständlich zu machen, müssen weitere Beispiele dienen. Um Melodien zu erfinden, bedient sich der Musiker der toten Noten; der Maler bedarf der Farben, um ein Bild herzustellen; was würde aber der Musiker oder der Maler dazu sagen, wenn ein gleichkünstlerischer Gegenpart durch irgendwelche technische Möglichkeit in der Lage wäre, an die Stelle der Note, die zu einem Akkorde Verwendung finden soll, eine andere anzustimmen, wodurch der Gegner eine Disharmonie hervorruft, oder – wenn der Konkurrent des Malers, etwa durch chemische Beeinflussung, die Möglichkeit hätte, das ganze Bild, respektive die Harmonie der Farben, zu zerstören. Also keine ruhige besonnene künstlerische Gestaltung, sondern die stete, gegnerische Störung.

Typoskript aus dem Nachlass von Heinrich Weber; Sammlung privat

Dies ist jedoch beim Ringen stets der Fall. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Schwierigkeiten bei jedem Ringkampf in gleichem Maße zutreffen. Sie steigern sich mit der Leistungsfähigkeit gleichbefähigter Athleten.

Zwischen dem Balgen der Knaben und dem Ringen einer Elite-Mannschaft, etwa bei Länderkämpfen, ist ein himmelweiter Unterschied. Auch die Wettkämpfer der Gegenwart operieren, gemessen an den bestehenden Möglichkeiten, mit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Angriffen, Paraden und Kombinationen; jedoch habe ich gezeigt, in welch reichem Maße uns im Ringkampf ein Übungs- und Erziehungsgebiet zur Verfügung steht, um Männer heranzubilden, von deren Fähigkeitsmaß zu erwarten ist, dass sie allen Anforderungen, welche das Leben an sie stellen wird, gerecht werden; selbstverständlich auch dann, wenn sie als Wettringer der Zukunft in die Arenen der Völker herniedersteigen.

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[*] Dieses Manuskript-Fragment ist nicht inhaltsgleich mit Heinrich Webers gleichnamigem Zeitungsartikel Der Wettringer der Zukunft!, in: Deutsche Sport-Schule. Organ für die Interessen aller im Sport Tätigen. Mitteilungsblatt für Staats- und Stadtämter für Leibesübungen, Sportschulen, Sportberufsverbände u. Vereine, Sportlehrer, Sportoffiziere, Sportärzte, usw., Frankfurt am Main, Nr. 2, Februar 1922, S. 22-24