Hein schenkt Julchen einen Lorbeerkranz. Nach einem schlimmen Rausch schwört Hein Abstinenz. Die Kollegen wollen ihn verlocken. Hein nimmt sie beim Wort und gewinnt 10,- Mark. [1897]
Julchen Spieker saß vor der Längswand des großen Saales im „Kölner Hof“ zu Deutz. Unter zwei weißen Quarzlampen, die hoch in der Kuppel hingen, sammelten sich dünne Wolken bläulichen Rauches. Suchend schritten über die Randflächen des blanken Tanzbodens neu eintretende Gäste.
Kölner Hof 1908, Quelle: Wikimedia (online)
Neben Julchen saß deren Mutter, die befriedigt ihre Tochter beobachtete. Julchen war schön. In stolzer Haltung ließ sie den Blick über die im ersten Tanz wirbelnde Menge gleiten. Das Licht fiel schräg, aber voll auf das fleischige Gesicht, ohne der natürlichen Röte ihrer Wangen Abbruch zu tun.
Die Musik intonierte einen Rheinländer, und alles wiegte sich im Takt des Walzers:
„Oh, du wunderschöner deutscher Rhein,
sollst ewig Deutschlands Zierde sein!“
Vom Eingang der Bühne her erschallten Rufe. Noch konnte Julchen die Ankommenden nicht deutlich feststellen, da sie von den nach allen Seiten abströmenden Tanzpaaren verdeckt wurden. Jedoch ahnte sie, dass die Rufe Hein galten.
„Das wird er sein“, bemerkte die Mutter, worauf Julchen sich erhob, um besser zu sehen. Jene aber hielt sie heftig flüsternd an: „Das geziemt sich nicht!“ Errötend setzte Julchen sich wieder.
Ihr Herz blutete. Wie lange hatte sie sich danach gesehnt, sich Hein zu zeigen, nachdem sie erkannte, dass seine Augen ihr Liebe verrieten. Und sie sah ihn schon gern, als sie noch zur Schule ging – den ruhigen, artigen Jungen, dessen Blick immer so eigen sprach, als verachte er Worte.
Ihre Mutter stieß sie an: „Da kommt Fritz Opladen mit seiner Braut.“ Julchen fand gerade Zeit, die wieder aufkommende Scham zurückzudämmen und, unauffällig den Kopf hebend, sich bemerkbar zu machen. „Wie schön so ein Kranz ist“, sagte sie leise, als gelte es der Mutter.
Fritz, sie eben passierend, sah unwillkürlich auf seinen Kranz, den er in der Hand trug, dann auf die Sprecherin: „Sieh doch! Guten Abend Julchen!“ Er verneigte sich gegen die Mutter.
„Ich gratuliere auch!“ Fest drückte Julchen des Turners Hand. Wenn es doch Hein wäre, wünschte sie inbrünstig.
Kaum war er vorbei, da neigte die Mutter sich zu ihr; Julchen aber sprach beider Gedanken zuerst aus: „Er wird Hein sagen, dass wir hier sind.“ Jene lobte befriedigt nickend die kluge Taktik der Tochter.
Frau Spieker hörte hinter sich eine Stimme: „Guten Abend. Darf ich mit Ihrer Tochter …?“ Erfreut erkannte sie Hein.
Hein verfluchte seine Unbeholfenheit, Beklemmung und verstand nun nicht, dass er sich überhaupt entschlossen hatte, Julchen einzuladen: „Ich habe lange nicht mehr getanzt!“, entschuldigte er sich.
Sie interessierte Wichtigeres, wollte ihn loben: „Sogar den Meister Rodenbusch hast Du geworfen? Dann bist Du jetzt Kreismeister, wie man so sagt?!“
Hein passte diese Frage gar nicht in seiner selten schönen Stimmung. Es war so angenehm, mit ihr zusammen zu sein. „Ja“, antwortete er fast tonlos.
Wie wohlig fühlte er sich von dem Mädchen beherrscht, doch atmete er befreit auf, als die Musik verstummte.
Als Hein wiederkam, stellte sie fest, dass er etwas angeheitert war, und freute sich, vermutend, dass er wohl, wie man häufig schüchternen Männern nachsagt, nun gemütlich sein werde. Er sprach ebenso wenig wie vorher. Doch drehte er sich flotter mit ihr, und mit Behagen spürte sie den stärkeren Druck seiner Hände.
Lange sann Hein nach; musste er doch etwas tun, sie irgendwie unterhalten, ihr eine Freude bereiten. Oh! Welch guter Einfall belebte ihn: „Darf ich Dir einen Kranz schenken, Julchen?“
„Ach!“, hauchte sie. Ihre Augen strahlten, als erblicke sie hinter den seinen etwas ungewöhnlich Schönes. Wie gern hätte sie ihn umfassen mögen. „Darfst Du ihn denn verschenken?“ Verblüfft gewarte sie seine Verlegenheit.
Hein vermochte im Augenblick nicht zu antworten. Daran konnte er in seiner Freude ja auch nicht denken. Ob er Göbel deswegen fragen sollte? Wozu? Wer war berechtigt, es ihm zu verbieten? Hatte er Julchen gern, dann durfte es nicht verboten sein, alles für sie zu tun, was man tun mochte. „Ich will es einfach!“, sagte er bestimmt.
„Vor einigen Jahren habe ich im Schaufenster eines Pfandgeschäftes in Köln Trinkhörner und Pokale gesehen“, erzählte er ihr nun: „So etwas müsste bestraft werden. Die müssten nie mehr mitturnen dürfen. Du kannst mir glauben, das hat mir direkt einen Stich ins Herz gegeben. Das hat mir so weh getan, als wenn einer, den ich gernhabe, mich ganz arg beleidigt hätte.“ Verwundert sah Julchen Heins ehrlichen Zorn, da er erklärte: „Lieber würde ich krank vor Hunger, ehe ich das machte!“
„Wenn aber Einer ganz großen Hunger hat?“, wagte sie einzuwenden.
„Ich glaube, ich weiß, wie weh Hunger tut“, entgegnete Hein. „Wenn man nun die Preise nicht hätte? Ich würde, Gott weiß was, eher tun als das.“
„Meinst Du?“, zweifelte Julchen noch immer.
* * *
Die Pferdebahn fuhr auf der Straße nach Mühlberg über eine mehrfach serpentinartig sich windende Chaussee. In die milde Nacht klang das eintönige Geklapper der Pferdehufe, von den gedämpft aus dem Innern des geschlossenen Wagens dringenden Stimmen der zahlreichen Fahrgäste rhythmisch begleitet.
Julchen ließ die Hand, die ihr den Kranz reichte, gar nicht los, und auch Hein hatte kein Verlangen, sie zurückzuziehen. Erst das Schlenkern des Wagens trennte sie.
An der anderen Seite des Perrons stand die Mutter Julchens, bisweilen beide mit einem kritisch eingestellten Auge streifend. Heins Hirn war überladen mit Gedanken. Über was konnte er mit Julchen sprechen? So vieles hätte er sagen mögen, doch war vielleicht alles nicht angebracht. Wie gut, dass man beim Ringen nicht zu sprechen brauchte; dann wäre er immer der Letzte. Hein musste gegen seinen Willen lachen.
„Warum lachst Du?“, fragte Julchen.
Er senkte den Blick: „Ich freue mich, dass wir so schön zusammenfahren.“
In einer Kurve sprang der Wagen wie ein Füllen. Julchen, die, zu Hein im Winkel stehend, sich gegen die Rückwand des Perrons lehnte, stürzte nach vorn, mit der Brust gegen Heins schnell vorgehaltene gespreizte Hand. Die Schwenkung des Wagens bedingte es, dass das Mädchen in seinen Arm fiel und sich sekundenlang an ihn zu halten suchte.
Des drohenden Verdachtes bewusstwerdend, griff er mit der freien Hand zu, drückte Julchen, so schnell er es vermochte, wieder an ihren Platz. „Oh, das wollte ich aber nicht“, entschuldigte er sich, verwundert und verletzt zugleich den strengen Blick der Mutter gewahrend.
Julchen, der dies entgangen war, sagte unbekümmert: „Hein, das wissen wir doch!“, wurde aber gleich danach von Jener aufgefordert, mit ihr in den Wagen zu gehen: „Komm herein, es wird kühl.“ Betroffen sah sie, wie Hein ein abweisender Blick der Mutter traf.
Beim Aussteigen schöpfte er wieder Hoffnung, doch wurde ihm, da er ihnen behilflich war, nur ein kühler „Gute Nacht“-Gruß der Mutter und ein langer, fragender Blick Julchens zuteil.
„War dieser Abschied für immer?“, sorgte er sich. Seine Brust schmerzte ihn. Schließlich beruhigte ihn der Gedanke, dass es wohl noch nicht entschieden sei. Auch tröstete ihn ein wenig das Vorerleben der Freude, die die Mutter über seine Meisterschaft empfinden werde.
Behutsam drehte er den Schlüssel in der Haustür um.
* * *
In der Mitte einiger Kollegen kam Hein aus dem Fabriktor. Die Luft war von Staub geschwängert. Links stand ein zweistöckiges Bürohaus aus gelben Backsteinen, rechts ein langer, schwarzer Bretterzaun.
Es quälte ihn großes Verlangen, allem zu entfliehen. Zwar war der Vortag recht ertragreich, doch die Siegerstimmung blieb aus, obwohl er sich dem Favoriten aus Süddeutschland überlegen gezeigt hatte.
Zu Hause war wieder Not. Vor Wochen ging Cornel zur ersten Kommunion, und jetzt nimmt Nettchen an einem Nähkursus teil. Das gibt neue Schulden.
Von Bergmann hat wiederholt Heins Bitten, den Rest des Vorschusses von 2000,- Mark, den der Vater erhielt und der ihm und Johann vom Lohn abgezogen wird, zu erlassen, schroff abgelehnt.
Verdrießlich auch, dass er Julchen nicht unter den Zuschauern gefunden, hatte er sich gleich nach den Endkämpfen heimlich verdrückt, um noch eine „Halbe“ mit zu nehmen. Endlos lange hatte der Morgen auf sich warten lassen.
„Kommt, wir wollen feiern!“, lud er die Kollegen ein. Parallel mit dem Flusslauf streckte sich bis zu einer fernen Kurve eine fette Wiese, dahinter niedrige Hügel.
Sie entblößten ihre Oberkörper, berauschten sich am Gesang des Stromes, an der warmen Morgensonne und saugten den würzigen Duft des Grases ein.
Fanfarenstöße weckten sie aus ihrem Schlaf, der Boden erzitterte unter dem Galopp eines Kürassier-Zuges.
Hein schickte einen Kollegen ins nahe alte Zollhaus: „Fünf Flaschen Bier und fünf Zigarren!“
„Kein Schnäpschen?“, ermunterten sie ihn.
„Natürlich! Auch ein Schnäpschen! Sagt nur, was Ihr haben wollt!“
„Hein! Jetzt singen wir Dein Lied! Los!“, wurde er hernach aufgefordert.
„Was?“, gähnte Hein, sich die Augen reibend. Wo befand er sich denn? Ach ja, sie hatten einen Spaziergang gemacht. Wo kamen nur die dumpfen Kopfschmerzen her?
„Dein Lied!“
„Ich bin ein Preuss“, gab einer den Ton an.
Da verstand Hein. Wie nett sie waren. Sein Lied wollten sie mit ihm singen, das er manchmal gut gelaunt an der Maschine vor sich her sang. „Au! Ja!“, lallte er.
Was sie von sich gaben, war mehr grölen als singen:
„Ich bin Athlet, was kann es Schön‘res geben,
wie wenn Geschicklichkeit mit Kraft sich eint?
Wenn spielend wir die Eisenzentner heben,
zu heißem Ringen fordern auf den Freund!
Der Sinnlichkeit Gewalten
mit Kraft wir niederhalten!
Denn eitle Lust Athleten nie verführt,
ein starker Geist den starken Körper ziert!“
Auf der Brücke musste Hein immerwährend gehalten werden, da er die Jacke ausziehen wollte: „Ich will schwimmen!“
Die ihn behindernden Kollegen schleppte er wie lästige Anhängsel von der rechten zur linken Seite und wieder zurück: „Ich will baden! Mir ist so warm!“
Auf dem Markt trat Hein vielen Händlerinnen gegen die Obst- und Gemüsekörbe. Schimpfworte flogen hinter ihm her. Seine Begleiter, die viel sicherer gingen als er, bekamen Angst: „Gleich wird ein Schutzmann kommen!“
„Er soll bloß mal kommen!“ Hein drehte sich nach allen Seiten: „Schutzmann! Wo bist Du?“
Nur eine der Marktfrauen nahm den Unfug nicht so ernst. „Seht!“, rief sie belustigt: „Das ist doch der Hein! Nun auch mal heiter?“ Es war Frau Odental, die der Mutter manchen Kohl zum halben Preis abgab.
„Halt die Schnauze, alter Drachen!“, rief Hein laut, auf ihren Stand zugehend, von zwei Kollegen am Rockschoß gehalten. Beide Hände abwehrend vor das Gesicht haltend, trat die Frau entsetzt hinter ihre Körbe.
Fassungslos empfing ihn Mathilde: „Hein! Wie ist das möglich!“ Wütend starrte sie den Männern nach, die sich eilig entfernten. Schwer drückte sie die Furcht, dass Hein nun wohl früher oder später in die Bahn des Vaters schreiten werde. Alles Leid der früheren Jahre wurde wieder in ihr lebendig.
Sie führte ihn in ihr Zimmer, wo Hein sich so, wie er war, auf das Bett fallen ließ, Unverständliches lallend. „Sie haben ihn verführt. Sie haben ihn verführt …“, murmelte sie fortwährend, da sie ihm Jacke und Schuhe auszog.
* * *
Am Spätnachmittag erwacht, trat Hein in die Küche und begegnete einem flüchtigen, vorwurfsvollen Blick Johanns, der eben von der Arbeit heimgekommen, vor einem blanken Teller saß. Verwundert fragte Hein ihn: „Bist Du mittags nicht zu Hause gewesen?“
„Doch“, entgegnete der Bruder: „Aber wie ich Dich gesehen habe, konnte ich nichts essen.“ Hein bemerkte, dass Johann es vermied, ihn anzusehen.
Gekränkt drehte er sich auf dem Absatz um, stand wieder im Zimmer. Hinter sich vernahm er Mathildes traurige Stimme: „Frau Odental war hier.“ Ein Schimmer Erinnerung zuckte in ihm auf.
Im Winkel neben dem Fenster stand ein langer Spiegel. Mit geweiteten Augen sah Hein seine beschmierte Hose, das käsige, schlaffe Gesicht, die trüben Augen und sein klebriges Haar. Groll und Ekel ergriffen ihn zugleich.
Jäh auffahrend, brüllte er die Gestalt im Spiegel an: „Bin ich das wirklich?“, fuhr sich wild mit den Händen über das Gesicht und durch das Haar: „Ich, einer der besten rheinischen Ringer?“ Er schob den Kopf ganz dicht zum Spiegel vor: „So hat Johann mich gesehen! – Frau Odental! Alle! – Und Mama!“ Harte Flüche sprudelten gegen das Glas.
Seine Gedanken überstürzten sich. Der große Erfolg am Vortage tauchte auf, Julchen, Frau Odental, Schnaps, sein Überdruss an allem; wenn er schon betrunken war, was hatte ihn zum Flegel gemacht?
„Lump! Schwein! Du willst ein edler Turner sein?“ Seine Stimme überschrie sich, mit geballten Fäusten stand er in ohnmächtiger Wut zitternd vor seinem Bilde.
Johann trat ein, legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Komm Hein. Einmal ist keinmal“, nahm ihn bei den Armen, um ihn wegzuziehen.
In der Tür erschien Mathilde. Mit Schmerz und Stolz erfüllte sie die ehrliche Scham ihres Ältesten: „Komm, Junge.“
Hein machte sich frei, streckte den Arm zum Schwur: „Niemals mehr! Zehn Jahre lang soll kein Tropfen Alkohol über meine Lippen kommen!“, und wandte sich langsam um. „Und drei Jahre werde ich nicht mehr rauchen!“, fügte er ruhiger hinzu. Seine Stirn sank auf Johanns Schulter, der den Bruder mit beiden Händen umfasste.
Mathilde errötete. Der Jubel ihres Herzens lähmte ihr die Zunge.
Weinend kam Jaköbchen gelaufen und versteckte sich, nach einem ängstlichen Blick auf die großen Brüder, hinter ihr.
* * *
Einer Bahnhofshalle gleich lag die Seilerei hinter dem großen Fabrikhof in der ersten Front zwischen kleineren Werkstätten. Aus dem weitgeöffneten Tor drang Lärm, Rauchfetzen wirbelten unter dem Dach. Auf einer langen dicken Transmissionsachse drehte sich eine über mannsgroße Seilscheibe, während im Hintergrunde zu beiden Seiten der Achse zahlreiche kleine Scheiben zwischen einem Gewirr von Seilen auf kleinen Wellen surrten.
An der rechten Seite arbeitete eine Kabelmaschine unter ohrenbetäubendem Lärm. Neun quadratisch zueinander montierte meterhohe Haspeln gaben mit Jute isolierte Seile an ein horizontal liegendes Zentrum ab, das die Seile zu einem armdicken Kabel wand.
Dumpf durchbrach eine Dampfsirene allen Lärm; die Maschinen liefen langsamer, verstummten. Nach allen Richtungen überquerten Arbeiter einen breiten, sich durch die Mitte der Halle ziehenden Gang.

Hinter Reihen kleiner Verseilmaschinen stand vor primitiven Schränken eine lange Bank. Auf Fenstersimsen dampften Kaffeekannen, die von schmutzigen Händen fortgehoben wurden. Putzlappen gingen von Hand zu Hand.
Unter den Arbeitern fiel Hein durch seine muskulösen Arme auf. Er verzehrte, wie die Meisten, wortlos sein Frühstück. Erst nach Minuten wurde hier und dort ein Wort laut.
„He, Kegelbruder! Was gab’s denn gestern?“
Einer der Köpfe, die über den Maschinen herausragten, wendete sich der Bank zu: „Den Fünften habe ich mir in Bensberg geholt.“
„Bloß den Fünften?“, hänselte ein Dritter: „Wieder mehr gesoffen wie gekegelt, was?“
„Eben, sechszehn Halbe schon am Samstag!“
„Sechzehn? Pah, die merk ich gar nicht.“
„Du Kühlkopf! Dich sauf ich zweimal unter den Tisch!“, Gelächter folgte.
„Ah! Ich möchte blauen Montag machen“, gähnte Heins Nachbar, richtete sich aber freudig auf, da ein Arbeiter, der von Mann zu Mann ging, ein Gläschen Schnaps bot.
„Also los! Verdammt noch mal!“, befahl der Einschenkende nun auch dem vergnügt grinsenden Hein: „Hast lange genug gefastet!“
„Paster!“
„Spaßverderber!“, klang es in der Runde.
„Wieso?“, wehrte sich Hein: „Euer Vergnügen ist Trinken, mein‘s Turnen.“
„Lüge! Ich saufe und bin auch Schriftwart im Gesangsverein!“
Von der Maschinenparade her drang eine tiefe, heisere Stimme: „Er hat recht. Ich bin zweiter Vorsitzender in Rauchklub und trinke auch mit. So hat bald jeder seinen Sport.“
„Also!“
„Heb wieder mal einen!“
„Los Hein!“
Er aber blieb fest: „Es schadet mir.“ Er wusste, dass er mit der Ablehnung seine Kollegen kränkte. War es doch von den Vätern überlieferter Brauch, zuweilen Samstag vor Schichtschluss, immer aber Montagvormittags „Einen zu nehmen“. Er weigerte sich heute schon das fünfte oder sechste Mal. Und ein anderer tat es ihm schon seit zwei Wochen nach.
„Das ist ja beinah eine Verschwörung!“
„Ja, ihr beleidigt die Innung!“
Da entschloss sich Hein, den Kollegen zu gestehen: „Ich habe geschworen, zehn Jahre lang nicht mehr von dem Zeug zu trinken.“
„Zeug sagt er!“
„Seht mal einer an!“, anhaltendes Lachen verbreitete sich im Raume. Nur die, die vor sechs Wochen mit ihm auf der Heide waren, sahen ihn respektvoll an.
„Das muss ich halten“, versicherte Hein unbekümmert und es wurde ein Weilchen still. Einige starrten sinnend zu Boden.
Heins Nachbar schlug sich laut knallend auf das Knie: „Einen Taler Hein, wenn Du einen hebst!“, erhielt zur Antwort aber nur ein mitleidiges Lächeln.
„Ich gebe auch einen!“, meldete sich jemand.
Das gab Aufregung. Die Arbeiter umringten Hein und spornten ihn an: „Hein!“
„Esel!“
„Zwei Taler!“
„Ran!“
„Drei Taler!“, schrie Krüger, ein älterer Arbeiter, dessen an den Schläfen ein wenig ergrauter Kopf krebsrot zwischen den Seilen und Haspeln hervor wuchs: „Wir wollen doch mal sehen, was mehr wiegt, Geld oder Worte!“
„Hein!“, brüllte der Chor: „Drei Taler!“
Der Schornstein begann zu tuten. Er wollte sich durch den Haufen zwängen, doch sie hielten ihn an: „Narr!“
„Nimm die drei Taler!“
„Könnt Ihr das Geld nicht zu Hause gebrauchen?“
„Sei nicht dumm!“, raunte ihm einer ins Ohr: „Kannst ja von heute ab Deinen Eid halten!“
Hein wurde es ungemütlich und heiß; was sollte er nur beginnen, um sie los zu werden? „Lasst mich! Baldus wird gleich kommen!“
Jetzt tauchte ein kräftiger, blühend aussehender Mann auf, seine blaue Hose ein wenig herunterstreifend: „Ich gebe eine Mark zu!“ Unter stürmischem Hallo hielt er Hein die offene Hand hin: „Das Füchschen ist Dein!“
Hein stutzte – ein Füchschen! Wie ihm das kleine goldene Relief Wilhelm II. mit dem sauber geriffelten Rand anlachte. „Zehn Märker, wenn Du ein Schnäpschen hebst!“
„Sofort! Sieh! Paul legt es aus bis zum Lohntag!“
„Ich nehme Euch beim Wort!“, entschied sich Hein. Zehn Mark, das war ja für zweieinhalb Schichten Lohn, ohne Arbeit. „Ich heb‘s!“ „Aha!“, triumphierten die anderen.
„Gieß ein!“ Der mit der Flasche hielt ihm das Glas hin. Hein nahm es zögernd, hob es zum Munde, zagte wieder.
„Na, los?!“, brüllte der Chor.
Hein leerte das Glas. „Bravo!“, riefen alle.
„Hab ich‘s nicht gesagt?“, schmunzelte Krüger.
Indessen nahm Hein das Goldstück, machte dicke Backen und spritzte, sich beugend, den Schnaps auf die Erde.
„Oho!“, wurde protestiert.
„Das gilt nicht!“
Er aber machte den Hosenriemen los, steckte das Geld ein: „Ich brauchte das Zeug nur zu heben und habe es sogar in den Mund genommen.“ Dann riefen sie alle durcheinander.
Nachher fügten sie sich. „Heben heißt aber trinken!“, meinte Krüger noch: „Wenn Du auch von Rechtswegen Recht hast, Du Gauner!“
Darauf verteilte sich der Haufen unter die ratternden Maschinen. Die Mienen der Enttäuschten bereiteten Hein Vergnügen und laut rief er ihnen zu: „Ja! Das ist die Strafe dafür, dass ihr mich meineidig machen wolltet!“
An der Maschine stehend, begann er leise zu singen: „Ich bin Athlet, was kann es Schön‘res geben …“ Die Spulen sangen mit, begannen zu quietschen. „Schmieren! Schmieren!“, mahnte ihn sein Gewissen.
* * *
Fortsetzung folgt!!!
					

