Der große Heinrich Eberle kommt in die Übungsstunde und gibt den Ringern Tipps. Herrlich, ein Berufsathlet kann den ganzen Tag über Verbesserungen der Technik nachdenken! [1897]
Hein ging mit Funkhausen, Bergstuhl und zwei anderen Männern über einen Hof. An drei Seiten ragten Hauswände hoch; die vierte schloss die Giebelseite eines niedrigen, ungeputzten Baues. Die Luft war diesig und frisch. Es roch nach Pferden.
Vor dem offenen Tor holte Böhm, ein gesetzter Mann mit verschwitztem Gesicht, die Gruppe ein. „Also hört mal!“, wandte er sich in feierlichem Tone an sie: „Heute ist die eigentliche Taufe unseres Vereins: Eberle[1] kommt!“
„Was?! Eberle?!“, fragte Funkhausen freudig erregt.
Auch Hein war überrascht. Der nach Abs berühmteste Berufsringer und Gewichtheber wollte zu ihrer Übungsstunde kommen? „Der Weltrekordmann?“, wollte er sich vergewissern.
„Natürlich!“, versicherte Böhm. „Das Ihr mir den Mann aber ans Schwitzen bringt! Vorher lasse ich Euch nicht hier heraus!“ Funkhausen und Bergstuhl ließen ihr Auge trübselig auf den schwarzgrauen Innenwänden und in dem Balkenwerk des Dachstuhls umherirren, in dem lange Fetzen Spinngewebe hingen.
„Erwarten wir ihn doch lieber in der Schänke!“, empfahl der Erstere: „Vielleicht kannst Du ihn animieren, erst Einen zu heben.“
„Oder wir machen schnell den Ofen an“, meinte Bergstuhl: „Eberle verträgt als Zimmermann keine Zimmerschwüle.“ Hein indessen brachte die freudige Erwartung etwas aus der Fassung. Wie würde er wohl gegen den Meister bestehen, der doch sicher in allen Kampfmomenten besser zu Hause war als ein Amateur, der sein Denken in erster Linie den Berufs- und Nahrungssorgen widmen musste. Ein Berufsathlet dagegen durfte den ganzen Tag über Verbesserungen der Technik nachdenken, konnte seine ganze Lebensweise auf seinen Sport einstellen. Herrlich musste das sein!
Der Boden des Stalles war stark mit Sägespänen gemischt. An Haken, die im Mauerwerk steckten, hingen sie ihre Kleider auf.
„Guten Abend“, ließ sich vom Eingang her eine tiefe, weiche Stimme vernehmen, die in dem leeren Raum schwach verhallte. Eberle, ein dunkelblonder, 22-jähriger Mann mit fast schüchternem Gesicht, kam langsam auf sie zu. Aller Augen ruhten voll Respekt und Bewunderung auf seiner hünenhaften Gestalt. Er mochte an 200 Pfund Gewicht haben, die sich harmonisch auf alle Köperpartien verteilten. Hals, Oberarme und Waden waren fast gleich stark.

„Wie Siegfried auf den Bildern der Sage!“, konstatierte Hein begeistert, begierig zugleich, sich mit ihm zu messen.
Es schien, als ob Eberle mit den Gewichten, die er zur Hand nahm, spiele. Dann schraubte er 220 Pfund auf die Stange, brachte sie mit der rechten Hand frei zur Brust und unmittelbar darauf zur Hochstrecke. Sein Gesicht überzog schwache Röte.
Enthusiastisch umringten ihn die Athleten und zahlreich anwesende Gäste: „Kolossal!“
„Das ist ja neuer Rekord!“
„Hurra Eberle!“
Minutenlang schwirrten Reden durcheinander.
Auch Eberle selbst war hocherfreut, war es doch heute das zweite Mal, dass ihm dies gelang: „Jetzt werde ich die Rekordvorstellung anmelden!“
Sodann verfolgte er eingehend die Übungen der Übrigen. „Sie gehen beim Reißen zu früh in die Kniebeuge“, mahnte er Funkhausen. „Sie atmen erst beim Anheben und zu hastig ein“, korrigierte er einen Anderen.
Funkhausens Ehrgeiz war gereizt: „Ich glaube, Sie haben recht, Herr Eberle. Dann will ich mich mal anstrengen!“ Er nahm 240 Pfund mit beiden Händen und konnte sie einwandfrei stoßen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Als er sie niedersetzte, lachte er breit. Wieder brach Jubel aus!
Beim Ringen warf Eberle Funkhausen in 14 und Hein in 17 Minuten. Er zeigte ihnen eine Anzahl neuer Griffe, indem er mit Felder auch am Boden weiterrang und erklärte: „Das ist der deutsch-griechisch-römische Stil[2].“
Hein war entzückt. Wie Schlangenmenschen wanden sich die beiden Männer am Boden. „Das müssten wir auch einführen!“, schlug er vor. „Ja, das ist schön!“
„Gewiss. Sobald als möglich“, war Böhm einverstanden. Er sah die Kämpfenden stark husten: „Erst müssen wir festen Boden haben.“
„Ach, wie lange würde das noch dauern?“, war Hein besorgt: „Sicher geht es schon, wenn man ein Dutzend Bretter zusammennagelt“. Was Funkhausen anregte, ihn zu unterstützen: „Wir trinken dafür mal ein Glas mehr bei Dir, Herr Vorstand!“
Das gefiel Böhm: „Gemacht!“
* * *
Im Vereinszimmer saß Eberle inmitten der Athleten und Freunde an einer langen Tischreihe und erzählte: „Die Griechen bezeichneten alle Übungen als Gymnastik. Die Schulen, in denen die Bürgersöhne studierten, hießen Gymnasien.“
„So wie bei uns?“, rief jemand dazwischen.
„Ja“, bestätigte Eberle: „Dort ist aber auch, im Gegensatz zu den heutigen Gymnasien, die vom klassischen Altertum nur den Namen übernommen haben, mindestens ebenso viel gerungen und geboxt, wie studiert worden.
„Auch gerungen?“, fragte Einer verwundert.
„Ringen war das Wichtigste dabei! Dazu hatten sie eigene Plätze, die sie ‚Palästra‘[3] nannten. ‚Palästrik‘ war der Ausdruck für Ringkunst. Im Fünfkampf, genannt ‚Pentathlon‘[4], traten die Kämpfer zuerst zum Springen an. Nur eine bestimmte Anzahl der Besten hiervon durften sich dann im Speerwurf messen, wovon wieder nur die ersten zum Wettlauf zugelassen wurden. So blieben nach der vierten Übung, dem Diskuswerfen, nur zwei übrig, die sich glücklich durchgekämpft hatten. Sie mussten miteinander ringen. Man salbte ihre Körper und bestreute sie mit Sand. Die Sieger erhielten den olympischen Preis, einen zum Kranz gewundenen Zweig vom Ölbaum. Sie wurden wie Nationalhelden gefeiert, häufig wurden eigens zu ihrem Empfang die Stadtmauern durchbrochen, und man fuhr sie, von vielen Rossen gezogen, als erste durch das so entstandene Tor.“
„Wundervoll!“, rief Funkhausen erregt.
„Glückliche Menschen“, murmelte Böhm.
„Gewiss!“, bestätigte der Erzähler: „Wir werden jetzt noch vielfach verlacht, von Behörden sogar behindert. Die Griechen aber rissen die Mauern ein, um damit zu zeigen, dass eine Stadt oder ein Stamm mit solchen Söhnen keine Mauern brauche. Statuen wurden sogar ihnen zu Ehren errichtet, wozu man die besten Künstler heranzog.“
Hein lauschte mit geöffneten Lippen, in Gedanken in der traumfernen Vergangenheit, die er sich zu vergegenwärtigen suchte. Er sah im weiten Kessel eines antiken Stadions in gleißender Sonne tobende Menschenmengen in Linnengewändern, nackte Jünglinge im Lauf anfeuernd. – Schüler rauften sich vor den Säulengängen eines Gymnasiums im Sande, von einem Manne in Purpur zum höchsten Eifer angestachelt, bis einer, aus dem Munde blutend, zum Zeichen der Ergebung seinem Rivalen auf die Schulter klopfte. – Mitleidig lächelnd stand Hein neben Agesilaos, dem König von Sparta, der gefangenen Persern gebot, sich zu entkleiden, damit seine vorüberziehenden Truppen im Vergleich ihrer harten muskulösen und gebräunten Körper mit den weichlichen, aufgedunsenen der Perser erkannten, warum sie die Sieger waren.
„Dass die Jungen bluteten, das war aber nicht nötig“, kritisierte Böhm ernst.
Bergstuhl war der Auffassung, dass ein bisschen Blut nichts schade: „Wir sind doch keine Schoßhündchen. Im Leben blutet man auch schon mal. Übrigens konnte er ja aufgeben, ehe die Zähne anfingen zu bluten.“
„Schafskopf!“, fuhr Böhm ihm drein: „Zähne bluten doch nicht!“ Das Zimmer schien erschüttert von ausgelassenem Lachen.
„Ich finde auch, dass das Ringen die schönste Übung ist, die es gibt“, wandte sich Hein an Eberle.
„Ohne Zweifel ist jeder Sport schön. Im Ringen sind gewissermaßen alle Übungen in sich vereinigt, was beim Turnen nur selten der Fall ist.“
Dem als Gast anwesenden Göbel gefiel das nicht: „Ich glaube, z.B. die Lunge wird nur beim Laufen und am Reck und Barren richtig angestrengt.“
„Na Du!“, warf Funkhausen belustigt ein: „Geh mal eine halbe Stunde forsch auf einen guten Gegner los. Sollst mal sehen, wie Du da ans Japsen kommst.“
„Und es ist richtiger Kampf!“, erklärte Hein: „Man hat direkt mit dem Gegner zu tun. Man hat ihn doch in der Hand, und er wehrt sich mit Gewalt. Darum ist das Ringen auch schwerer wie alles andere. Mal wird man von vorne, mal von der Seite oder von hinten gefasst. Alles geht blitzschnell.“
Nun meldete sich wieder Eberle: „Deshalb bildet es auch den Geist. Man muss schnell denken und fortwährend entschlossen handeln.“
„So ist es!“, ereiferte sich Felder: „Ich habe schon alles gemacht. Der Läufer muss aufpassen, dass er richtig abläuft, und seine Kraft gut einteilen. Das Ziel steht fest, da muss er hin, nichts ist ihm im Wege. Den Springer können nur seine eigene Schwäche oder Ungeschicklichkeit am Erfolge hindern. Keiner hebt die Latte höher, wenn er herankommt. Der Ringer wird bei allen Griffen die er macht, behindert, sogar bei dem noch, mit dem er gewinnt.“
„Das trifft den Nagel auf den Kopf!“, freute sich Bergstuhl.
Auch Eberle nickte bedeutsam, von dem treffenden Argument überrascht: „In oft stundenlangen Kämpfen“, fügte er nur hinzu.

Bergstuhl wollte in diesem wichtigen Streit auch sein Gutachten abgeben: „Reck und Barrenturnen ist sehr schön und strengt auch an. Aber“, er hob gewichtig einen Finger, „nichts ist einem im Wege, die Übungen zu machen die man sich vorgenommen hat. Man weiß sie genau und muss nur achten, dass man nicht auf den Tokus[5] fällt. Beim Ringen zwingt einen der Andere immer wieder, was Neues zu denken. Oh, das ist gesund für das Gehirn. Und es kann mir doch keiner weiß machen, dass es einen Sport gibt, bei dem aber auch rein alles so bewegt wird wie beim Ringen.“ Er sah sich herausfordernd um.
„So ist es!“
„Stimmt!“
„Na also!“, anerkannten viele.
Göbel war erbost. Die Jungens wollten mit eine Mal das schöne alte Turnen zurücksetzen? Das herrliche Wandern und Laufen im Freien? Das erregte ihn sehr: „‚Nur, nur, nur!‘ Man braucht beim 400 Meterlauf ‚nur‘ seine Kraft einzuteilen! Kleinigkeit!“
Er machte eine spöttische Geste gegen Felder: „Und wenn Dir einer auf den Fersen ist? Lässt Du ihn nicht vorbei, kann Dir die Puste zu früh ausgehen.“
„Also!“, rief Felder.
„Zum Donnerwetter! Warte doch ab!“
„Dann laufen alle vorbei“, brummte Böhm unter erneuter Heiterkeit.
Göbel zwang sich zur Ruhe: „Lässt Du sie aber vor, dann weißt Du nicht, ob Deine Kräfte zum Siege reichen. Und wenn dem Hauptgegner die Vereinskameraden helfen und tanzen bis ans Ende vor Dir herum? Kleinigkeit! Ich sage Euch, man muss oft die Gedanken der Gegner erraten.“ „‚Nur!‘“, hängte er beleidigt an.
„Das mag schon sein“, tat Böhm zustimmend: „Bei denen, die hinter Dir laufen, muss das Gedankenlesen besonders schwer sein.“
In das einsetzende Zischen fiel Funkhausens Bassstimme: „Dann bist Du ja ein Phrenologe[6].“
Eberle, den Zorn Göbels bemerkend, vermittelte schnell: „Doch, doch, es gibt bei vielen Sportarten verzwickte Momente. Wer ein guter Ringer werden will, tut gut, sich in Allem zu üben, besonders beim Laufen seine Lunge zu stärken.
„Aha!“, platzte es bei Göbel heraus.
„Laufe mal mit einem Sack auf dem Buckel!“, meldete sich am Tischende ein Alter: „Dann nutzt die Lunge allein nicht viel!“
„Warum denn gerade mit einem Sack?“
„Na, ich meine als Soldat! Meinetwegen mit dem Tornister, oder mit einer Eisenbahnschwelle, oder mit einem verwundeten Kameraden, oder was sonst im Leben vorkommt! Ich sage Ihnen, Ihr jungen Herren, da muss man auch etwas in den Armen und Kraft in den Beinen und in den Knien haben.“ Er tippte nervös mit dem Zeigefinger in die Luft. „Darum bin ich ganz und gar für das Ringen!“
Die Begründung des Alten ließ alle aufschauen. Eberle schmunzelte: „Es gehört alles zusammen. Glauben Sie mir, dass ich 100 Meter in knapp 14 Sekunden laufe und 1,60 Meter ohne Brett springe?“
Das hatte niemand vermutet. „Oh!“
„Donnerwetter!“
„Bei dem Gewicht!?“
„Man muss alles üben. Versagt nur einen Augenblick ein Organ, dann vermag der Gegner, selbst, wenn er kaum auf den Beinen stehen kann, noch zu siegen.“
„Na also!“, schmunzelte Göbel: „Nichts wäret Ihr ohne das schöne Turnen.“ Das brachte die Lacher auf seine Seite, was ihn sichtlich befriedigte.
Böhm fühlte sich am meisten getroffen: „Du weißt doch Göbel, wir mussten uns spezialisieren, weil die in anderen Städten es schon lange getan haben.“ Er zwinkerte mit einem Auge: „Wir treten deshalb doch auch öfter für die Turngemeinde an.“
Hein schloss sich ihm an. War Göbel doch im Recht. Viel verdankten sie ihm, und wie gut war er die ganzen Jahre zu ihm. Er reichte Göbel die Hand: „Oh ja! Wir ringen auch noch für Euch! Ihr sollt es erleben, Herr Göbel!“
Göbel lachte, als habe ihm jemand etwas geschenkt: „So! Das ist aber wirklich nett!“
[1] Heinrich Eberle (geb. am 14.04.1873 in Köln; gest. am 22.12.1919) wurde von Karl Abs trainiert. Vgl. WRESTLINGDATA.COM.
[2] „Nur der Körper oberhalb der Gürtellinie gilt als Angriffsfläche. Dies gilt im Stand- wie auch im Bodenkampf“ (Ringen, WIKIPEDIA [online; 09.11.2025]).
[3] Das Wort Palästra leitet sich von dem griechischen Pale ab und bezeichnete ursprünglich eine mit Sand bedeckte Fläche für das Training der Ringkämpfe bzw. für entsprechende Wettkämpfe. Vgl. Palästra, WIKIPEDIA (online; 09.11.2025).
[4] Das Pentathlon (Fünfkampf) war bei den Olympischen Spielen der Antike eine athletische Disziplin. Der Name leitet sich ab von dem griechischen Wort „Fünf Wettkämpfe“: Speer, Diskus, Sprung, Lauf und Ringen. Bei den 18. Olympischen Spielen der Antike waren sie erstmalig mit dabei. Während der Wirren der Zwangschristianisierung im Römischen Reich gingen die Regeln des antiken Pentathlons verloren, falls sie jemals schriftlich niedergelegt waren. Vgl. Pentathlon, WIKIPEDIA (online; 09.11.2025).
[5] Tokus ist ein anderes Wort für Gesäß.
[6] „Die Phrenologie (von altgriechisch φρήν phrēn: ‚Geist, Gemüt, Zwerchfell, Körpermitte, Seele‘) ist eine zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der von dem Arzt und Anatomen Franz Joseph Gall (1758-1828) formulierten Lokalisationslehre oder Schädellehre entwickelte topologisch ausgerichtete Lehre, die versuchte, geistige Eigenschaften und Zustände bestimmten, klar abgegrenzten Hirnarealen zuzuordnen“ (Phrenologie, WIKIPEDIA [online; 09.11.2025]).
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Fortsetzung folgt!!!