Kapitel Sechs

Hein beschützt seinen Bruder Lorenz und droht dem prügelnden Lehrer. Er tritt endlich in den Turnverein ein. Für die Farben des Vereins erringt er einen Kranz. [1892/93]

Das Schulzimmer war durch zwei Reihen Bänke geteilt. In die schwarz gestrichenen Oberteile waren rechteckige Gefäße aus Metall eingelassen, deren zum Teil offene Schieber mit Tinte gefüllte Porzellantöpfchen erkennen ließen. Knaben lösten, meist in den Bänken stehend, ihre Bündel.

Der Eintritt eines mittelgroßen, gesetzten Mannes machte das Summen, das im Raume schwang, verstummen: „Setzen“, sagte er mit einem flüchtigen Blick auf die Kinder, die laut über den Boden schlürfend, sich gerade erhoben.

Der Lehrer ging an einem erhöht stehenden Pult vorüber, das von einer großen Tafel und einem schmalen Schrank flankiert war, wechselte den Rock und trat an seinen Platz.

Das breite Gesicht wandte sich über die Köpfe der Knaben hinweg zu der entgegengesetzten grauweißen Wand, an der Bilder Wilhelms I. und Friedrich III. hingen, und wieder zurück nach unten, wo vor dem Pult ein blasser Junge stand: „Eine Empfehlung von meinem Bruder“, sagte der Kleine, der dem Lehrer schüchtern einen Zettel heraufreichte.

Der Lehrer murmelte, die Zeilen überblickend, vor sich hin, rückte die Brille zurecht und las noch einmal leise:

„An Herrn Lehrer Löhe!
Sie haben meinen Bruder Lorenz so auf die Hand geschlagen, dass sie rot und blau ist und bald aufgesprungen wäre. Mit dieser Hand muss mein Bruder im nächsten Jahre sein Brot verdienen. Wenn Sie meinen Bruder noch einmal schlagen, werde ich es Ihnen mit Wucherzinsen zurückzahlen.
Heinrich Felseck.“

„Hm“, entschlüpfte es dem verlegen grinsenden Lehrer: „Wie alt ist denn Dein Bruder?“
„Siebzehn Jahre, Herr Lehrer.“

„Siebzehn?“, vergewisserte sich Löhe und lachte hell auf. Sein gedrungener Körper schüttelte sich. „Köstlich, köstlich!“, rief er aus, nahm sein Taschentuch hervor, musste, während er sich schnäuzte, immerfort lachen, um endlich, sich auf seine Autorität besinnend, kurz abzubrechen: „Setz Dich!“

Mit drohender Miene trieb er die in den Bänken zusammengesteckten, tuschelnden Köpfe auseinander: „Rechenhefte vornehmen! Wurzel ausziehen aus den Endsummen der Hausaufgaben!“

Während er einen Stoß blauer Hefte durchsah, trat ein großer Mann ein, dem er sogleich entgegenging: „Sehen Sie sich das einmal an!“ Dabei brach er wieder in lautes Lachen aus, indem er sich einmal unterbrach: „Ruhe!“, fordernd.

Der andere, es war Lorscheid, ein Kollege Löhes, las aufmerksam die Zeilen. Sein energischer Mund kräuselte sich, als er Löhe, der sich mühsam das Lachen verkniff, am Arm in die Ecke zog.

Er maß die gut gewachsene Gestalt des Kollegen mit einem kritischen Blick: „Das ist nicht zum Lachen!“

„Aber …“, wollte dieser ihn unterbrechen, doch jener wies ihn zurück: „Ja, ja, fast noch ein Kind. Aber ich rate Ihnen, sehen Sie sich vor, dass Sie ihm nicht einmal begegnen!“

„Ist so etwas möglich?!“, entrüstete sich Löhe: „Sie scherzen!“

„Der Junge übt häufig bei unseren Vereinsabenden, obwohl er noch nicht Mitglied ist – die Leute sind arm –, aber er ist schon einer der Besten. Und Sie wissen doch, unsere Leute holen sich auf allen Wettstreiten die ersten Preise.“

„Nicht möglich!“, Löhes Gesicht wurde lang und sehr ernst, unsicher rückten die Augen hinter den Gläsern hin und her.

„Wenn er erst vernünftig und regelmäßig übt, wird etwas aus ihm!“, Lorscheid reichte dem konsterniert vor ihm Stehenden die Hand: „Ich meine es gut. Nun muss ich eilen, bis zur Pause.“

Lohe überlegte. Mit siebzehn Jahren schon einer der Stärksten der Stadt, das war den Verhältnissen entsprechend allerdings bewunderungswürdig. Dieser Drohbrief zeugte offenkundig von einem starken Selbstbewusstsein. Beschwerde oder Anzeige wäre aber blamabel. „Unangenehme Sache!“, fluchte er in sich hinein; dann rief er: „Lorenz Felseck, komm mal her!“

Löhrchen stand verwundert auf; wurde er doch sonst nie mit dem Vornamen gerufen.

„Zeig mal“, fragte der Lehrer.

Der Junge sah Löhe eigensinnig, vorwurfsvoll an. Hatte die Unterhaltung der Lehrer ganz seiner Person gegolten, dann musste der Brief doch eine ernste Wirkung ausgeübt haben.

Fünf breite Striemen liefen quer über die knochige Hand.

Löhe musste die Augen kleiner machen, als er sie zum Kinde erhob: „Du wirst Dich doch so betragen, dass dies nicht mehr vorkommt?!“

Das verstand Löhrchen nicht, der darum mit der Antwort auf sich warten ließ.

Er studierte die gefällig werdenden Züge des Lehrers – Hein wird mir sagen, warum der Lehrer so spricht und so guckt –, „Ja“, erwiderte er dann sinnend.

Löhe war befriedigt, schob, sich beugend, den Jungen sanft fort: „Setz Dich.“

* * *

Stolz sah Hein sich in der Halle um. Er war am Ziel! Das Reck, der Barren, die Hanteln und Bälle und die ihn so einladend anschauenden Menschen; sie gehörten zu ihm. Er war mit ihnen eins! Er war Mitglied der Turngemeinde Mühlberg am Rhein! Wie nackt kam er sich vor in der leichten Hose und dem dünnen Hemd ohne Ärmel. Jetzt war er ein richtiger Turner und würde auch Wettstreite besuchen können.

Zeitgenössische Werbeanzeige; Quelle: Illustrierte Athletik-Sportzeitung, München, 16. Jhg., Nr. 31, 03.08.1907

Von einem unbezwingbaren Betätigungsdrang erfasst, ging er lebhaft einige Schritte weiter, neben ihm Johann, der ihn verstehend zunickte. Nach kurzem Anlauf hingen sie in den Ringen. Sich nach dem Rückschwung kräftig vom Boden abstoßend, kamen sie schnell hoch, zogen sich an und standen wie Kerzen. Wie auf Kommando sanken ihre Körper wieder hernieder, krümmten sich, die Beine hebend, nach hinten, schwebten in der Waage hoch und weit. Gingen langsam zurück, um in kühnem Absprung in Kniebeuge nebeneinander zu landen.

„Fein!“
„Bravo!“
„Gut!“, rief man ihnen zu.

„Das war die beste Einführung, Hein“, begrüßte sie Funkhausen, ein stämmiger, blondhaariger Athlet, dessen Hand Hein mit beiden Händen schüttelte: „Vor allem meine herzlichste Gratulation!“ Hatte dieser doch erst vor 14 Tagen auf der großen Ausstellung in Köln den 2. Preis im Stemmen hinter dem Bayern Beck und dann den 3. Preis im Ringen erkämpft, was ihm den letzten Anstoß gegeben, sich nun endlich als Mitglied einschreiben zu lassen. Die Mutter hatte ihm und Johann, mit der Begründung, dass Lorenz ja jetzt in der Lehre sei und schon etwas zu seiner Beköstigung beitrage, das Eintrittsgeld und den ersten Monatsbeitrag zugesteuert.

Eine kleine Gruppe kam hinzu, aus der ein jüngerer Turner vortrat, Johann und Hein die Hand reichend: „Es freut mich, dass Ihr jetzt richtige Turngenossen seid!“

Wie wohl tat dies Hein. Es war ein Kollege, mit dem er infolge einer Streitigkeit monatelang nicht gesprochen hatte. Jetzt mochte er die Hand gar nicht loslassen.

Zwei niedrig hängende Gaslampen warfen trübes Licht auf die Männer, von denen sich die Hälfte abtrennte, um sich auf Reck und Barren zu verteilen. Die übrigen holten Gewichte und Hanteln zur Mitte.

„Zeig mal, ob Du Deinen Rekord von der Ausstellung wieder schaffst“, forderte jemand Funkhausen auf.

„Also beidarmig stoßen!“, ordnete der Riegenführer an. „Was sollen wir vorlegen?“
„Hundertsechzig!“
„Hundertfünfzig!“, „Hundertachtzig!“, meldeten sich mehrere zugleich.

Hein verfolgte scharf die Stellung, jede Bewegung, die Atemtechnik der Matadore. Gierig saugte sich sein Blick an der hohen, breitschultrigen Gestalt Funkhausens fest. Und wie ihm Bergstuhl gefiel, eine sehnige Figur, deren entblößter Oberkörper nur aus Muskeln zu bestehen schien.

Bei hundertachtzig Pfund waren sie nur noch sechs. Hein brachte mit größter Not 185 Pfund zur Brust. Beim Abstoß sah es aus, als werde es glattgehen. Aber in Kopfhöhe blieb die Hantel stehen. Hein zeigte eiserne Ruhe, als stehe sein Können außer Frage, es musste heute ja alles gehen. Unter Anspannung aller Muskeln ging das Gerät hoch.

„Hm!“, wunderten sich die Umstehenden. Heins Körper zitterte wie im Frost.

„Genug damit“, bemerkte der Riegenführer, indessen der Vorsitzende Göbel ihn lobte: „Seht mal einer an! Du bist doch kaum hundertfünfzig?“

„Hundertzweiundfünfzig“, sagte Hein freudig.

Unter großem Hallo wiederholte Funkhausen seinen rheinländischen Rekord, Dreimal 200 Pfund. Das vierte Mal konnte er nicht mehr ganz durchstoßen.

„Ringen!“, wurde kommandiert. Der Boden erdröhnte wie unter dem Abwurf einer Hantel, wenn die Großen sich gegenseitig aus dem Stande niederschmetterten. Führte der im Stande angesetzte Griff nicht zur direkten Niederlage, so mussten die Gegner sich wieder erheben.

„Komm! Jetzt machen wir einen Gang!“, wurde Hein von Funkhausen eingeladen, worauf er gerne einging.

„Heute sollst Du es nicht so leicht haben!“, lachte er seinen Meister an, der belustigt in die dargebotene Hand einschlug: „Du tust ja, als ob ich bisher mit Dir gespielt hätte.“ Gelächter begleitete diese Bemerkung.

Auf und nieder ging es ohne Resultat. „Zehn Minuten!“ rief Göbel: „Nun macht aber!“

„Er steht wie angeschraubt“, anerkannte Bergstuhl.

„Hupp!“, gelang Hein ein Untergriff. Funkhausen stemmte sich mit beiden Händen gegen seine Stirn, glitt durch eine ruckartige Kopfbewegung Heins wieder ab. Er stellte mit Genugtuung fest, dass er mit der Rechten im Rücken des Gegners das Gelenk der Linken umfassen konnte, presste ihn im Heben fest an sich, machte eine halbe Drehung und in energischem Rückschwung brachte er ihn auf den Boden.

Unter Aufbietung größter Kraft versuchte der Meister, sich aus der Schulterlage frei zu machen, während Hein entschlossen nachdrückte.

Jenem gelang es aber, ihn abzuhalten, in die Brücke zu gehen und sich zu drehen.

Mit roten Köpfen sprangen sie auf, durch lebhafte Zurufe angefeuert, zum Ende zu kommen, bis dem Großen ein Hüftschwung gelang. Gleich einem Fisch im Sande, zappelte Hein auf dem Boden, versuchte, den Gegner abzuwälzen. Seine Fäuste verkrampften sich, als wollten sie Steine mahlen. Vergeblich. Er fühlte, wie seine Schulten fest niedergedrückt wurden.

Schließlich ist er sechs Jahre älter als ich, fand Hein sich mit der Niederlage ab, sich im Stillen über die Respekt verratende Miene des Siegers freuend, von dem er sich hochziehen ließ.

Nun rang er mit Felder, der 15 Pfund leichter war wie er, aber Ringkampfspezialist war. Fast im Tempo eines auf- und absausenden Maschinenhammers ging es zu Boden und wieder in den Stand zurück. Hein hatte die Empfindung, dass das Denken, welches der schnelle Griffwechsel erforderte, ihm Kopfschmerzen bereite.

Als sie nach zehn Minuten nicht fertig waren, brach Funkhausen den Kampf ab: „Ihr macht Euch ganz kaputt.“

Hein brummte der Schädel noch, als sie schon das Vereinslokal passierten. „Ich muss noch eine halbe Schicht machen“, schlug er die Einladung der Turnbrüder ab.

„Aber heute?“, beharrte Funkhausen. „Du musst doch mal ein bisschen Ruhe haben!“
„Klar, Du bist doch auch ein Mensch!“
„Los!“
„Komm Hein, ein Gläschen!“, forderten ihn auch die Übrigen auf.
„Ich gebe einen aus!“, rief Göbel: „Weil Du so tüchtig warst!“
„Ich dank Euch schön, Herr Göbel.“ In Heins Stimme klang tiefes Bedauern: „Aber ich muss doch noch eine Halbe machen. Wo soll‘s denn herkommen?“

Das tat Johann weh: „Ich werde Dich bis zum Tor begleiten.“ Wie schön wäre es gewesen, wenn sie mit den Turngenossen noch eine Stunde hätten plaudern können.

Der Mond lachte melancholisch über den Dächern, ihren Weg wenig erhellend.

* * *

Johann und Lorenz gingen mit Hein zur Werft, begleitet von Pille Mappei und Fritz Opladen.

Hein war mit seinen Gedanken schon weit fort. Heute galt es, die Taufe zu bestehen, auf die er jahrelang hatte warten müssen. Er sollte nicht nur für die Farben des Vereins einen Kranz erringen; das stand für ihn außer Zweifel; sondern die Freunde erwarteten von ihm, dass er den ersten Preis seiner Klasse erringen werde. So munkelte man seit Wochen, da durch eine Niederlage Funkhausens die Kreismeisterschaft, die der Verein seit Jahren innehatte, verloren gegangen war. Pille hatte ihm erst in den letzten Tagen hinterbracht, dass Göbel große Hoffnung auf ihn setze. Er sei jung, Funkhausen ebenbürtig. Der Kampf für die Vaterstadt, vor aller Öffentlichkeit, werde seine Kraft und Geschicklichkeit erhöhen. „Im nächsten Jahr holt Hein uns die Kreismeisterschaft wieder. Davon werden sie am Sonntag schon einen Vorgeschmack bekommen“, sollte Göbel zu einigen Vertrauten gesagt haben!

„Hein!“, zupfte Lorenz den Bruder, nach rechts weisend, am Rock. Dort spazierte ein Mann in abgetragenem Bratenrock, mit auf den Rücken liegenden Händen, den Kopf genießerisch zurückgeworfen, daher: „Da geht er!“

Hein schrak zusammen. „Wer?“
„Der Lehrer Löhe!“
„Au Hein!“, regte Pille ihn an.

Fritz Opladen meinte: „Gib ihm ordentlich Bescheid!“, während Johann abriet: „Nicht Hein! Und gerade heute!“

Hein dachte an die zerschlagene Hand des Bruders, an seine eigene Schulzeit zurück. Schnell schritt er aus, zog höflich den Hut: „Guten Morgen Herr Löhe!“

Löhe errötete. Mein Gott! Das war doch Felseck! Er würde sich doch nicht an ihm vergreifen wollen? Das wäre schändlicher Missbrauch seiner Kraft, aber besser ist besser. – Er sah Hein groß an: „Nein, nein! Ich heiße nicht Löhe!“, und marschierte, von schallendem Gelächter verfolgt, im Eilschritt davon.

Hein, zunächst überrascht, empfand Ekel: „Armer Tropf!“, rief er dem Fliehenden zu: „Hast wohl Angst, andere könnten ihre Kraft an Dir so missbrauchen, wie Du es alle Tage an Kindern tust! Ich wollte nur sagen, dass das feige ist!“

Am Landungssteg lag ein Dampfer, davor stand Göbel. Er war Modelltischlermeister, ein hübscher flotter Mensch, dem der kurze Spitzbart gut zu dem ovalen geröteten Gesicht stand. Gefällig betrachtete er Hein, der in seinem Aufzuge, grauer Jacke, schwarzweiß karierter Hose und schwarzem runden Schlapphut, etwas keck aussah. Doch wurde dieser Eindruck durch das gutmütige ernste Gesicht etwas abgeschwächt. Das gefiel Göbel. Es ist Selbstvertrauen; er wird kein Lampenfieber bekommen. Er ging, die Hand ausstreckend, auf Hein zu: „Mach uns Freude, Hein!“

Hein wurde es warm: „Oh, ich will Euch nicht enttäuschen.“ Unter den Klängen einer kleinen Kapelle fuhr das Schiff zur Mitte des Stromes, dessen Wellenkämme im Schein der schräg über die Häuser der ‚Freiheit‘ das Wasser treffenden Sonne glänzten, durch die Brücke rheinabwärts.

Der Raddampfer Bismarck um 1900; Wikimedia (online; 21.04.2025)

Hein grübelte wieder. Wie sollte er am sichersten das in ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigen oder gar dem Verein eine Überraschung bereiten? Die Anfängerklasse kam für ihn, obwohl er gerade achtzehn Jahre alt war, von vornherein nicht in Frage. Die zweite Klasse, für die er sich gemeldet, das waren schon Könner. Wer auf Bezirks- oder größeren Wettstreiten zwei erste Preise errungen hatte, musste in die vordere Klasse aufrücken. Ob er es wagen sollte, einen Irrtum vortäuschend, sich in die erste Klasse umschreiben zu lassen? Es würde sich ja nur um eine Notlüge handeln, die niemandem schaden konnte.

Funkhausen war einverstanden: „Wenn Du so viel Mut hast, schaffst Du es auch.“ Er meinte: „Es ist mal so. Entweder ich bin schlechter geworden, oder die anderen besser.“

Hein widersprach ihm: „Das ist nur ein wenig Unpässlichkeit. Du kommst wieder obenauf.“

Jener aber lächelte zweifelnd: „Vielleicht! Aber sieh Dich vor. Der neue Kreismeister hat einen eisernen Kreuzgriff, da kommst Du nicht mehr heraus.“ Er suchte unauffällig in den Bänken: „Da sitzt er“, und zeigte ihm seinen Bezwinger, eine Gestalt, die der Bergstuhls glich.

Der Dampfer machte bald an einer einsamen Anlegestelle fest. Es ging zwischen Kartoffel- und Kornfeldern an Gehöften vorbei zu dem kleinen Ort Rheindorf.

Hunderte Kinder, aus den Nachbardörfern zusammengeströmt, stürmten ihm entgegen. Am Eingang des Ortes, der reich mit Girlanden und Willkommensschildern geschmückt war, gebot ein Gendarm in verblichener blauer Uniform und viel zu großem Helm der Musik Einhalt: „Es ist noch Kirchzeit!“

* * *

In einem Gartenrestaurant, das vor der vom Tannenwald flankierten Turnwiese lag, fielen die Entscheidungen im Ringen und Stemmen. In der Mitte desselben erhob sich ein Podium.

Hein bekam Respekt vor den kernigen Burschen, die gewohnt waren, sich auf rohen Brettern und harter Bauernerde zu wälzen. Sie schienen mit dem Holz, auf dem sie standen, verwachsen. Die Haut auf ihren Ellbogen und Schultern musste verhornt sein; denn so sehr sie auch, endlich gehoben, knallend auf die Bretter flogen, ihre Glieder blieben heil. Wohingegen die Oberarme und Gelenke der Städter zum Teil bedenklich aussehende Hautabschürfungen aufwiesen. Wer einmal besiegt war, schied aus. So lichteten sich die Reihen schnell.

Funkhausen musste sich nach hartem Kampfe vor dem neuen Kreismeister Rodenbusch beugen und war nun ehrlich froh, dass Hein in der ersten Klasse angetreten war: „Pass nur gut auf“, riet er seinem Schüler mit besorgter Miene.

Hein stand dem Kreismeister gegenüber. Einen Moment wollte er zagen. Er fühlte Lähmung in den Unterschenkeln, Füße und Schultern brannten. Sein Blick huschte über die ungehobelten Bretter, als der Pfiff des Kampfrichters ihn auffrischte.

Er gedachte wieder des Mottos, das die Mutter ihm mit auf den Weg gegeben. „Greif den Gegner tüchtig an; denn, wirfst Du ihn nicht, wirft er Dich!“ Damit war er bis zum Endkampf gekommen, damit wollte er siegen.

Fast zwanzig Minuten währte der Kampf schon. Im weiten, dicht besetzten Viereck stieg das Volk auf die Stühle, an den Zäunen gar auf die Tische; in mehreren Baumkronen lärmten Knaben.

Dem Meister gelang trotz aller Achtsamkeit Heins ein Kreuzgriff. „Verflucht noch!“, zischte Funkhausen dicht an der Barriere stehend, doch im Fallen sprengte Hein, laut ächzend, den Griff.

„Ah!“, schrie das Publikum. Beifall brach aus, während die Kameraden und der Kampfrichter sich überrascht ansahen.

Nun umfing Hein, kaum wieder auf den Beinen, den anderen, der, die Beine spreizend, verzweifelt sich hängte und in der Umklammerung würgte. Er beugte die Knie, sich selbst leicht nach hinten, und nach kurzem Schwung krachten die Bretter unter dem schweren Aufschlag der beiden Männer.

Tumult brach los. Schreiend huldigten die Bauern Hein, der lächelnd dankend sich die blutigen Hände rieb.

„Hein!“, brüllte Funkhausen ekstatisch mit den anderen Vereinskameraden wie aus einem Munde und riss den erschöpft die Stufen Heruntertaumelnden in seine Arme.

„Ich danke, dass Du Dich so mit mir freust“, keuchte Hein, noch außer Atem.

Oh wie herrlich war es, Sieger zu sein! Und wie würde Göbel sich freuen! Und die Mutter, Pille und Fritz und alle. Das Glücksgefühl enthob ihn aller Müdigkeit, und lächelnd ließ er sich von den ihn Umringenden die Hände drücken.

* * *

Hein ging sinnenden Schrittes durch Flur und Küche. Vor dem Schlafzimmer Mathildes nahm er einen Eichenkranz mit weißer Schleife vom Hut und streichelte ihn. Was wird die Mutter zu meinem Siege sagen, riet er. Ob sie sich freuen wird?

Geräuschlos öffnete er die Tür und legte den Kranz in Brusthöhe auf das Bettzeug Mathildes, um sich wieder zu entfernen. Da sie sich räusperte, duckte er sich schnell neben dem Bett nieder.

Erwachend rieb Mathilde sich die Augen, entdeckte den Kranz: „Ach?“, ergriff ihn mit ihren dürren Händen: „I. Preis-Ringen, I. Klasse!“, flüsterte sie verklärt: „Wie schön.“

Neben ihr tauchte Heins Kopf auf. Sie richtete sich hoch, fuhr mit der Hand über den Kranz, dann über Heins Haar.

Heinrich Weber: Mein schönster Sportlererfolg – Eine ringsportliche Erinnerung, Zeitungsausschnitt, Erscheinungsort und -datum unbekannt; Sammlung privat

Sie sah sich entschädigt für so viele einsame Abende, die sie in den letzten Jahren hatte auf sich nehmen müssen. Wenn er nicht arbeitete, ging er zum Verein, und wie lieb wäre es ihr doch gewesen, wenn er sich häufiger mit ihr über die das Wohl der Familie entscheidenden Fragen beraten, oder ihr auch einmal ein Plauderstündchen mehr gewidmet hätte. Jetzt empfand sie, dass es so richtiger sei – das Volk muss starke Männer haben.

„Mein Sieger!“, sagte sie, stolz das erste Wort betonend, und setzte den Kranz dem neben ihr Knieenden auf das Haupt.

„Schade, dass Du zur Arbeit musst. Aber heute Abend trinken wir darauf ein Tässchen Bohnenkaffee.“

„Ja, Mama“, antwortete Hein, froh ob dieser Anerkennung. Wie leicht würde ihm heute die Arbeit fallen, wenn er auch nicht geschlafen hatte: „So mache ich heute nur eine Schicht und hole das Fehlende im Laufe der Woche nach?“

„Natürlich Junge!“ Tief bohrte Mathilde ihren strahlenden Blick in den Heins und zog ihn zu sich hinab.

* * *