Ohne die Fahne seines Vereines darf Hein nicht am Turnier teilnehmen. Er bleibt trotzdem und tritt außer Konkurrenz an, überlässt die Ehre aber dem offiziellen Sieger. [1895]
Heiß brannte die Sonne auf die Landstraße am Ausgange des Städtchens Ohligs. Hinter jungen Obstbäumen stand ein Bauernhaus mit einem vorgelagerten Restaurationsgarten.
An einem der Tische saßen drei Männer, die eifrig in Listen suchten und Vermerke machten, wobei sich eine lange Kette von Männern langsam an ihnen vorbei schob.
In ihr stand auch Hein. „Heinrich Felseck, Turngemeinde Mühlberg“, meldete er sich, als er an der Reihe war.
„Nur die Turner, die mit ihrer Fahne im Festzuge waren, können mitmachen!“, erhielt er von einem der drei Männer zur Antwort: „Eure Fahne steht nicht in der Liste.“
Hein war erstaunt: „Davon weiß ich wirklich nichts. Und deshalb …“ „Wo ist Eure Fahne?“, fragte der Andere barsch.
„Jetzt bin ich einmal hier, jetzt will ich auch turnen!“, protestierte Hein.
„Was denkst Du wohl, wie alle streiten würden, wenn wir mit Dir eine Ausnahme machen wollten?“ Mit diesen Worten fuchtelte ihm der Vorsitzende, ein großer Mensch mit langem Schnurbart, auf dessen Brust einige Medaillen prangten, mit einer halbvollen Bierflasche vor der Nase herum.
„Was wollt Ihr denn?“ Es wollte Hein nicht in den Kopf, dass 2,60 Mark Fahrgeld umsonst ausgegeben sein sollten. 2,60 Mark! Wie rechnete er alle 14 Tage vor der Lohnzahlung, was für ihn übrigbleiben würde. Mal war es 1,- Mark, mal an 1,50 Mark, und oft genug machte ihn Baldus, der Nachfolger des Vaters, durch einen willkürlichen Abzug einen Strich durch die Rechnung. Nun sollten die sauren Ersparnisse eines ganzen Monats nutzlos vertan sein? „Ich bin doch nicht umsonst 2½ Stunden mit Euch durch die Stadt gelaufen!“
Die am Tisch lachten nur, aber hinter sich hörte er jemand sagen: „Extrawurscht gibt’s hier nicht!“

Er sah sich umringt. Einen glaubte er, vom letzten Wettstreit her wieder zu erkennen. Dieser stellte sich vor ihn hin: „Ordnung muss sein! Wenn Du zu faul bist, die Fahne zu tragen, musst Du eben zu Hause bleiben.“
„Kommt gar nicht in Frage, hier so mir nichts, dir nichts die Preise wegholen!“, reizte ein anderer, der darauf von einem Nachbarn hart angestoßen wurde.
„Ach!“ Wie weh das tat! Es gab also auch Turner, die den vermutlich Besseren fürchteten? Wie konnte er einem Stärkeren gegenüber missgünstig sein! Wie achtete er den Kölner Rodenbusch, der ihn vor Kurzem recht derbe auf die Bretter feuerte. Und was war schon ein Kranz wert, wenn man, so oft der Blick auf ihn fiel, daran denken musste, dass man ihn gar nicht besäße, hätte ein Besserer nicht unter den Zuschauern gestanden.
„So, deshalb“, lachte er bitter. „Dann seid ohne Sorge!“, streckte die Hände tief in die Taschen und ging davon. Hinter ihm quoll unterdrücktes Lachen aus mehreren Kehlen.
Betrübt spazierte er ziellos über einen weiten Platz, auf dem die Menschen große Rechtecke und Ringe bildeten, in denen er Turner sich regen sah.
Es wurde Abend. Inmitten diskutierender, sich vorwärts schiebender Gruppen schritt er durch eine Gasse, um den Endkämpfen beizuwohnen, gelangte so in einen Saal. In das Schürfen und Stühlerücken drang kaum verständlich die Ansprache des Mannes, der ihn am Mittag so grob abgewiesen hatte.
Im Dauerstemmen siegte ein Blinder, der aus dem Hang eine 80 Pfund Hantel dreiundzwanzigmal bewältigte.
Hein konnte sich nicht mehr halten, wusste er doch, dass er mehr vermochte. Er sprang vor zu dem Tisch an der Bühne: „So lasst mich außer Konkurrenz mitstemmen!“
Der Vorsitzende war verdutzt: „Was! Du willst mehr schaffen?“ Das wäre ja für das westfälische Gebiet eine Attraktion. Der Blinde war doch in seiner Spezialität der Beste, wohin er auch kam! Schnell stieg er auf die Rampe: „Der Turner Felseck aus Mühlberg am Rhein will die Leistung des Siegers überbieten!“
Ein Raunen ging durch den Saal.
Hastig warf Hein den Rock ab, unter dem er kampfbereit das Turnhemd trug, schüttelte dem sich unter dem Kulissenrand wie suchend hin- und herwendenden Blinden, der grösser und stämmiger war als er, kräftig die Hand: „In Freundschaft!“

Es wurde ihm einen Augenblick bange vor den leeren Augenhöhlen, um die ein so eigenes, hingebendes Lachen lagerte, und es lief ihm kalt über den Rücken. Hätte er sich doch nicht gemeldet! Nun konnte er nicht zurück.
Gefällig und belustigt lachte ein Teil der Zuschauer auf, da die Hantel, als sei sie aus Gummi, schnell hintereinander aus dem Hang in die Höhe wippte. Nach dem fünfzehnten Male verringerte sich das Tempo, doch immer noch sicher und exakt ging das Gewicht hoch.
„Zwanzig!“, rief einer in die spannungsvolle Stille. „Einundzwanzig!“, folgten seinem Beispiel wohl ein Dutzend. Viele Männer und Frauen standen auf, die Mehrzahl der Anwesenden zählte im Chor: „Zweiundzwanzig! Dreiundzwanzig! Vierundzwanzig! Fünfundzwanzig!“
Hein legte sich beim Strecken leicht nach hinten, bemerkte, wie die Hantel langsam schwerer wurde. Mechanisch folgte er dem Rufe des Publikums „Sechsundzwanzig! Siebenundzwanzig! Achtundzwanzig!“ „Ah!“
Er verlor langsam das Gefühl in den Händen, erkannte, dass ihm die Hantel gleich entfallen musste. Einen Moment stand sie vor seinem Gesicht still. Er riss alle Energie zusammen. Es musste gehen! Bis dreißig wollte er schaffen! Langsam schwebte die Hantel höher, hing schwankend über seinem Kopf.
„Neunundzwanzig!“, begeisterten sich Hunderte: „Dreiß… – Oh!!“ Das Gewicht fiel schwer auf Heins Brust zurück. Zwei hinter ihm stehende Turner sprangen herbei; doch er ließ die Hantel selbst herab. Stürmischer Applaus ward ihm zuteil.
Der Lange sprang auf die Bühne: „Bravo Junge! Ich danke Dir, dass Du auf unserem Stiftungsfest so eine großartige Leistung vollbracht hast!“
Sich zur Seite wendend sah Hein wieder den Blinden, ward sich bewusst, dass es fraglich bliebe, ob er ihm wirklich überlegen sei, da dieser doch wohl einen Großteil seiner Energie an das Gefühl abgeben und viel vorsichtiger stemmen müsse als ein Sehender. Er riss sich von dem Gratulanten los, stürzte zu dem Blinden, der, da er ihn anfasste, fragend den Kopf hob, und führte ihn an die Rampe.
Die Hälse reckten sich. Hein war froh, dass ihn keine Befangenheit beschwerte, sprach laut und hastig: „Er könnte sicher mehr!“ Auf seinem Gesicht lag feierlicher Ernst: „Er ist doch der Bessere!“ Da fühlte er, wie die Hände des Blinden die seinen suchten und eisern umklammerten.
Der weite Raum erzitterte unter dem wilden Getrappel der Menschen, in dem hundertfältige Rufe hohl, wie abgerissen, verklangen.
* * *
Fortsetzung folgt!!!