Kapitel Zwei

Die Familie wächst, das Geld ist immer knapp. Heins sehnlichster Wunsch geht in Erfüllung, er sieht Carl Abs. Heins Entschluss steht fest: Auch er wird später Athlet. [1885]

In weitgestreckter Reihe lagen die Werkswohnungen[1], grau, mit niedrigen, teilweise von Sträuchern verdeckten Fenstern und Türen, rechtsseitig des ungepflasterten Weges. Dicht unter der Regenrinne hingen wie Bilderrahmen kleine Luken mit winzigen Gardinen.

„Hein!“, schrie mit gellender Stimme Mathilde, auf der Zaungrenze eines Vorgartens stehend. Mit lebhaft suchendem Blick streifte sie die gegenüberliegende Häuserfront, um ihn an eine Gruppe von Kindern zu heften, die sich in einer Lücke auf dem Grase balgten. „Hein!“, rief sie wieder, kehrte um und verschwand in einem dunklen Flur.

Aus dem Rudel löste sich Heinchen, jetzt ein schmaler zehnjähriger Knabe, stürmte in langen Sätzen auf das Haus zu. Unmittelbar hinter der Tür hielt er sich am Pfosten eines Geländers, das steil nach oben führte, gelangte mit einem Sprung an der Treppe vorbei zur Küche, in deren Eingang er betroffen stehen blieb. Auf dem Tisch lag ächzend und blökend ein kleiner Junge. Mathilde hielt ihn mit einer Hand an der Schulter, mit der anderen schlug sie kräftig in seinen Rücken, während drei Kinder, darunter ein Mädchen, weinend dabeistanden.

„Mama!“, meldete sich Hein entsetzt, worauf Mathilde, ohne in ihrem Tun einzuhalten, gebot: „Hole schnell den Arzt; Cornelchen hat ein Zwanzigpfennigstück verschluckt!“

Der Doktor traf Mathilde und das Kind völlig ermattet an. Nach kurzer Untersuchung beruhigte er sie: „Das Geldstück wird auf natürlichem Wege zum Vorschein kommen.“ Er weidete sich an dem Wandel in Mathildes Zügen, die sich mit einem beglückten, die Spur der Angst noch in sich tragenden Lächeln befreite: „Gott sei Dank!“

Das gleiche Spiel in den Mienen der Kinder war ihm Lohn genug. „Schon gut!“, wehrte er Mathildes Zahlungsbereitschaft ab.

Noch war die Vorstellung von dem Auftritt, den Lorenz ihr gemacht haben würde, wenn es nicht glatt abging, nicht ganz verflogen, als sie sich umringt sah. Die zweifelnden Gebärden der Jüngeren zwangen sie zum Lachen, was Nettchen Mut zu einer selbstständigen Frage gab: „Macht Cornelchen die zwanzig Pfennig ins Töpfchen?“

„Ja!“, Mathilde überlegte, der Arzt hat nichts genommen, eine Scene blieb ihr erspart. Im langsamen Sprechen wurde das Mögen zu einem Entschluss: „Ich will mal sehen – Ihr könnt Euch Kirschen dafür kaufen.“ Dann musste sie sich die Ohren zuhalten, so sehr stach sie das Jubelgeschrei der Kinder in den Kopf.

„Au! Mama!“
„Hurra!“
„Kirschen!“
„Au! Zwei Pfund Kirschen!“

Tanzend und wild die Hände zusammenschlagend, brachen sie in helles Lachen aus. So viel Kirschen mitten im Monat, noch dazu an einem Wochentag, das war eine Überraschung für sie, die nur Erbsen, Bohnen, Linsen und Kraut kannten.

Mathilde spürte einen starken Druck in der Kehle. Ach, wie selten durfte sie ihnen etwas gönnen. Nach dem Umzug in die Meisterwohnung hatte sie sich eine kleine Besserung versprochen, aber Lorenz benutzte die Einsparung an der Miete zur Erhöhung seines Taschengeldes.

Sie wies die Kinder hinaus; doch immer wieder schlichen sie herein und wohl ein Dutzend Mal musste Cornelchen ihnen in den nächsten Stunden zu Willen sein.

„Hurra!“, Hein hatte das Geld entdeckt, doch so er es unter der Wasserleitung wegzog, wurden seine Augen trübe, war es doch oxydiert. „Wie konnte es so schnell rosten?“, fragte sich Hein: „Nun bekommen wir nichts dafür!“

Mathilde erbaute sich einige Augenblicke an den enttäuschten Mienen, um dann Aufklärung zu geben: „Reibt es nur mit dem Tuch dort tüchtig ab.“

In dem Maße, wie das Geldstück vom Oxyd frei wurde, hellten sich die Gesichter wieder auf. Erneut ging der Lärm los.

Bald thronte Cornelchen, über dessen Ohren ausgesuchte Stängel mit drei Früchten hingen, beide Fäustchen voll Kirschen, in der Mitte der Geschwister auf einer langen Bank vor dem Fenster.

Nur Hein stand gegen eine Wand gelehnt, verstohlen Mathilde betrachtend, die eben, mit wie zum Kuss gespitztem Mund genießerisch eine Kirsche zerdrückend, am Herd stand.

Carl Abs (1851-1895); Bildquelle: Walter Becker: Die bedeutendsten Ringer der Welt, Berlin: Walter Becker Verlag, 1922, S. 5

Hein rang mit einem kühnen Plan. In dieser Stimmung wird er die Mutter so bald nicht wieder haben. Das müsste er nützen. Die großen Jungen erzählten von einem riesig starken Manne, der sich gegenwärtig in Köln zeigte. 30 Pfennige würde das kosten, nur 10 Pfennige mehr als die Kirschen, und 8 Pfennige Brückengeld hin und zurück. Der Doktor hätte doch eine oder gar zwei Mark verlangen können. Träumerisch hoben sich die glänzenden Augen unter dem dunkelblonden Haar aus dem schmalen, bleichen Gesicht heraus, irrten durch das Fenster ins Weite. Stark sein! Wie schön muss das sein. So groß und schön und stark wie der Vater. Wenn er doch nicht so streng wäre. Ob alle starken Männer so sind? Wird Abs auch so einen finsteren Blick haben wie der Vater; ob er schön ist? Wird seine Frau auch am frohsten sein, wenn er nicht zu Hause ist? Zögernd setzte Hein seine dünnen Beine in Bewegung, pürschte sich dicht an die Mutter heran: „Mama“, in feierlichem Ernst zu ihr heraufschauend.

„Na“, wunderte sich Mathilde, unter deren Blick der Junge die Augen senken musste. Fast schämte er sich seines Mutes: „Mama, weißt Du“, er fühlte eine leichte Hand auf seinem Kopf und hörte eine leise Frage: „Was hast Du denn, Hein?“

„Ach, wir sind ja arm“, versuchte er sein brennendes Verlangen zu ersticken.

Da wurde Mathilde böse. „Hat er etwas angerichtet“, bangte sie: „Aber Du musst mir deshalb doch sagen, was geschehen ist.“

„Ich möchte so gern Carl Abs sehen“, gestand er nun, der Mutter den Arm um die Taille legend.

Mathilde verstand die Bedeutung des Falles nicht, wohl aber die Seele des Kindes. Sie empfand in Gedanken dessen inhaltloses Leben mit. Einziges Vergnügen die ausgedörrten Wiesen der Umgebung, selten einmal eine Tour in den Wald, von der sie mit hungrigem Magen zurückkamen, ohne ihn recht befriedigen zu können. Ging es mal mit den Schulkameraden im offenen Rhein baden, war gleich der Gendarm da; und woher sollte sie 30 Pfennig Eintritt für die Schwimmbahn hernehmen? Nicht einmal den Drachen kann er mehr steigen lassen: hat ihm doch der Vater die Schnur weggenommen, um die Efeulaube herzurichten, und trotz seines Versprechens bis heute nicht ersetzt.

Mathilde seufzte leise, wodurch sich ein leichter Schmerz im Leibe bemerkbar machte. In gut vier Monaten ist ein neues da, dann wird es noch schwerer. Lorenz verdient an 200 Mark[2], davon gibt er ihr die Hälfte, für sieben Mäuler, für die ganze Wirtschaft. Bedauernd ließ sie die Hand über sein Gesicht herabgleiten: „Wie lange ist er denn in Köln?“

„Ich glaube zwei Wochen.“
„Ach, dann sag es mir in acht Tagen noch einmal, ja Junge?“
„Ja, Mama“, sagte Hein schwach hoffend.
„Aber auch sicher“, sagte Mathilde. Im Stillen überlegte sie, wie sie die 40 Pfennig erübrigen könne.

„Oh ja, Mama!“, das ist schon mehr, empfand Hein. Das war schon so gut, wie ein Ja, obwohl die Mutter mit Zusagen kargte. Wenn nur nichts dazwischenkommen wollte. Sinnend ging er zur Bank, im Vorbeigehen eine Kirsche greifend, die er mechanisch zum Munde führte. Man vernahm jetzt nur das Lutschen der Mäuler.

* * *

Hein lief im Trab durch eine auf den Rhein mündende Gasse. Sein Herz schlug laut, denn in einer Stunde sollte sein Wunsch in Erfüllung gehen. Die auf Pontons lagernde Holzbrücke war stark belebt. Weittönend läutete eine Glocke, die die Abfahrt eines Personendampfers ankündigte. „Wie schön“, sagte sich Hein, „wenn ich damit fahren könnte.“

Er wandte sich auf dem flach ansteigenden, steinigen Strande um. Ein großer, schwarzer Schleppdampfer ‚Stinnes IV‘ kroch heran.

Wie herrlich ist der Strom, diese breite, grünschimmernde, sich kraftvoll dahinwälzende Masse, die nie alle wird. Wie göttlich wäre es, hier zu wohnen, alle Tage baden und hernach hinten auf den hügeligen, saftigen Wiesen ruhen zu können, oder immer das grüne Wasser zu sehen, das so seltsam anzog, als gehörten sie zusammen, als seien sie miteinander verwandt. Oder mitfahren mit einem der Dampfer, sehen, woher die Wasser kommen, wohin sie münden. Den St. Gotthard sehen, ein Berg, der durch die Wolken geht; erleben das Vorkommen der Quelle. Wie der Bach, durch Verbindung mit anderen Strömen, zum König der Flüsse wird, rasend und doch majestätisch Berge und Ebenen, Ödland und Städte durchquert, alles Leben sehend, mit sich tragend, miteinander verbindend.

Wie ein Berg ragte das Schiff des Domes über das Häusermeer, auf der Brust die beiden gewaltigen, durchsichtigen Türme tragend, deren Kanten mit zahllosen Blumen aus Stuck geschmückt waren, die aus der Ferne wie Korallenketten aussehen.

Vor einem Gartenrestaurant lustwandelten viele Menschen. Eine kühle Brise trieb vom Rhein herauf, über dem, einem großen Gitter gleichend, die Eisenbahnbrücke hing.

Hein zog gewichtig das von der Mutter geliehene Geldtäschchen hervor und betrat ohne Scheu den riesigen Garten, in dem an langen Tischreihen schier unzählige Menschen saßen, deren Gemurmel schwach neben der Musik her klang. Im Stillen dankte er noch einmal der Mutter, die das viele Geld gab und ihn den weiten Weg alleine gehen ließ.

Vgl. Walter Becker: Die bedeutendsten Ringer der Welt, Berlin: Walter Becker Verlag, 1922; sowie Carl Abs, WIKIPEDIA (online; 21.04.2025)

Fanfarenstöße leiteten einen neuen Marsch ein, der bald in eine tänzelnde Weise hinüberwechselte, während gleichzeitig auf einer Gartenbühne der Vorhang hochgezogen wurde. Enttäuscht nahm Hein von der Soubrette Notiz, die etwas sang, was er nicht begriff. Ringsum leuchteten Ketten von weißbehelmten Gaslampen auf. Schon beim Heben des Vorhanges begannen viele Menschen mit Klatschen, das zu einem Rauschen anwuchs, als ein ungewöhnlich großer Mann in schwarzem Trikot, sich verneigend, vortrat.

Wie zu einem Wunder schaute Hein zur Bühne hinauf. Sein Traum war jetzt schon erfüllt. Der Athlet, der dort stand, übertraf den Vater an Größe und Mächtigkeit! Dabei war er trotz seines sicher hohen Gewichtes gar nicht dick. Und schön war Abs, hatte fast schwarzes Haar und, wie der Vater, einen großen, blonden Schnurrbart. Und dunkle, so freundlich, fast warm blickende Augen. Hein empfand im Augenblick Zuneigung für diesen Menschen. Gewiss ist er seiner Frau gut. Seine Kinder wird er nicht schlagen, vielleicht einmal strafen. Aber so grundlos und wild wie der Vater wird er bestimmt nicht schlagen.

Dass der Herkules mit einer Hand 40 Kilogramm in der Waage hielt und 90 Kilo frei vom Boden hochstreckte, schien ihm hiernach selbstverständlich. Als Abs aber 150 Kilo zur Brust nahm und hochstreckte, da erfasste ihn Begeisterung.

Nun rang Abs mit einem berühmten Ringer. Wie entzückten Hein die kraftvoll durchgeführten Griffe, die Behändigkeit der großen Männer, das Spiel der Muskeln. Wie dicke Seile traten sie auf der Haut hervor. Da! Der andere lag auf dem Rücken.

Die Leute standen, rufend und klatschend, von den Plätzen auf, auch Hein postierte sich jubelnd dicht vor die Bühne. Wie bescheiden Abs sich verneigte, als wollte er dies alles nicht. Das riss Hein zu noch stärkerem Beifall hin.

Das Auge des Athleten ruhte nach mehrmaligem Hervorrufen wohl auf eine Sekunde auf dem ekstatisch huldigenden Hein. Da stach sich sein Blick aufleuchtend in den des großen Mannes; er fühlte wohlige Wärme seinen Körper durchrieseln. Und der fallende Vorhang vermochte ihm das herrliche Bild nicht mehr zu entreißen.

Mit ihm trat er den Heimweg an. Er ließ das Erlebte noch einmal an sich vorüberziehen. Es fiel ihm ein, dass in seiner Nähe jemand gesagt hatte, Abs sei Zimmermann und wiege zweihundert Pfund.

Hein empfand zum ersten Male die unbeschwerte Ruhe der Nacht, die des Menschen Seele beschwingt, vom Alltag befreit. Er formte Zukunftspläne. Er wird ja auch älter werden, als Zimmermann viel Geld verdienen, sich immer satt essen können. Dann geht er in einen Turnverein und wird Athlet.

Ganz hinten steigt aus den mattschimmernden, sich kräuselnden Wogen ein nebelhaftes Bild, von unendlicher, besternter Bläue umrahmt, auf. In dessen heller Mitte ein Meer von Köpfen. Emporstreckende Hände huldigen einem, auf einem erhöhten Etwas mit verschränkten Armen hinter einer Hantel stehenden Athleten. Die Gestalt, Hein sieht es genau, gleicht der des Carl Abs. Aber das Gesicht ist sein Gesicht, wie das des Vaters, nur freundlicher, lächelnd.

Auch Hein lächelt, beglückt, lange.

„Alla Alla Allahuchhu!“ Hein schrak aus seinen Sinnen, erkannte die Stimme des Nachbarsohnes, den ihm die Mutter entgegenschickte. Schularbeit, Prügel, Hausarbeit, Drachenschnur drängte sich wieder in seine Gedankenwelt. Er wehrte sich und behielt einen festen Platz für Carl Abs. Ernüchtert, doch noch lächelnd, rief er laut und gedehnt: „Eja, Josef!

* * *


[1] „1883 waren über 1.000, vor dem Ersten Weltkrieg schon mehr als 6.000 Arbeiter bei Felten & Guilleaume tätig. Das Unternehmen errichtete zunächst für die mitgebrachte Stammbelegschaft zehn Einzelhäuser in der Zehntstraße, die damals noch die Bergisch Gladbacher Straße mit der Schanzenstraße verband. Später wurde sie in das Werksgelände einbezogen – bis auf das Stück zwischen Bergisch Gladbacher Straße und Holweider Straße, in dem heute noch eine Zeile eineinhalbgeschossiger Reihenhäuser steht, die als ‚Meisterhäuser‘ bekannt sind. Mehrgeschossige Arbeiterwohnhäuser mit schlichten Backsteinfassaden entstanden auch an der Holweider Straße und der Keupstraße“ (Walter Buschmann / Matthias Hennies / Alexander Kierdorf: Felten & Guilleaume Werkssiedlung in Mülheim [2018], in: KuLaDig, Kultur.Landschaft.Digital [online; 21.04.2025]). Die Werkswohnungen gehörten zum Unternehmen Felten & Guilleaume in Mülheim. Das Unternehmen hat seine Wurzeln im Seilereibetrieb der Familie Felten. Im Jahr 1874 wurde ein weiterer Fabrikationsstandort für die Drahtproduktion im zu jener Zeit noch selbstständigen Mülheim eröffnet. Das Werk trug den Namen Carlswerk. Ab 1892 wurde das Carlswerk eigenständig. Ab 1899 wurde es in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und trug den Namen Felten & Guilleaume Carlswerk AG. Vgl. Felten & Guilleaume, WIKIPEDIA (online; 21.04.2025). Im Jahr 1904 wurde von der Firma Felten & Guilleaume das erste transatlantische Telefonkabel produziert, es verband Europa mit Nordamerika. Vgl. Carlswerk (online; 21.04.2025).

[2] 1 Mark (1900) entsprächen 7,90 Euro. 200 Mark Monatseinkommen entsprächen heute ca. 1.600 Euro. Vgl. Deutsche Währungsgeschichte, WIKIPEDIA, (online; 21.04.2025). „Für ein wilhelminisches 3–Mark–Stück musste ein Bergarbeiter einen ganzen Tag arbeiten” (Nicolaus Heutger: Die Mark: Geschichte und Kaufkraft einer Währung [online; 21.04.2025]). „Um 1900 kostete 1 Kilo Schweinefleisch 1,50 Mark, 1 Kilo Butter 1,86 Mark, 1 Liter Milch 20 Pf., 1 Kilo Zucker 65 Pf. und 1 Kilo Kaffee weniger als 4 Mark“ (Ebenda).